Flugblatt


Man verteilt heute keine Flugblätter mehr. Und dennoch flog Justin eben ein solches  entgegen und landete durch das Abbremsen an seine Brust, vor seinen Füßen. Direkt vor seinen Schuhen, nur eine minimale Vorwärtsbewegung des linken Fußes wäre erforderlich gewesen, das Blatt festzuhalten. Bah, dachte er, warum er dies dachte, vermutlich der Farben wegen, lila, grün, orange, leuchtend, vielleicht auch weil die Vermutung naheliegend war, das Flugblatt liegt nicht zum ersten Mal auf der Erde, es ist also schmutzig, aus einer Reflexion heraus zu einem unerwarteten Halt seiner Bewegung, denn er nahm das Flugblatt erst als Flugblatt wahr, als es um einen Millimeterabstand vor seinem Schuh landete.

Kurz bevor er das Blatt mit den Schuh, ähnlich wie bei einer Zigarette, austreten, also seine Fußspitze über das Papier reiben wollte, griff er danach, denn er bemerkte, daß das, was so nah bei ihm lag, kein normales Stück Papier war. Es fühlte sich an wie diese Dinger, diese Luftpolster, die man als Verpackungsschutz einsetzt, beklebt mit buntem Papier. Justin drückte gleich drauflos mit einem „Ah“ auf den Lippen, wohl in der Hoffnung, diese kleinen Platzgeräusche zu vernehmen, die man hört, wenn die kleinen runden Luftkissen zerdrückt werden. Aber das ihm bekannte Hörerlebnis stellte sich nicht ein. Vielleicht war er auch zu abgelenkt, schließlich las er, während er nach dem Pufflaut lauschte, Einladung.

Einladung. 27. Juni 2017, 15 Uhr. Champagnergespräche. Hauser-Park. Laubengang am Springbrunnen.

Champagnergespräche, was soll das denn sein? Ein illustrer Kreis von Wichtigtuern, die über einen Brotkrümel stundenlang debattieren und sich die Welt schön schlecht reden. Politikertreffen? Quatsch! Hausfrauen? Die würden doch keinen Champagner anbieten. Irgend so ´ne Werbeagentur, die füllen dich mit lauwarmen billigen Sektfusel ab, damit du dir dann irgendein beschissenes Produkt kaufst, das in Wirklichkeit kein Schwein haben möchte. Fernsehsender! Fernsehsender. Haha! So eine Verarschesendung. Schön in die Kamera lächeln, gerade haben Hunderttausende dein doofes Gesicht gesehen, wie sie dich mit irgendeiner linken Masche hereingelegt haben. Haha. Nicht mit mir!

Vielleicht so eine Kuppelshow. Romantisches Treffen im Laubengang. Aber Gespräche. Gespräche mit Champagner. Ah, ich versteh´s. Eine Touristikfirma, so Katalogdingens, Urlaub in Frankreich, wie heißt das Land da, wo die den Champagner machen, Champagner, Champ.., Chamions, Champignon, Blödsinn, der Pilz kommt doch nicht aus Frankreich. Der eine Käse heißt auch so ähnlich, Brie, nein, Camembert, ja, Champagbert, Champaberg, Campagner, verdammt mir fällt dieser Name nicht ein. Jedenfalls sicher eine Betrugsmasche, um Leute zu ködern, in zweitklassigen Hotels ihren Urlaub zu verbringen.

Justin sitzt inzwischen in einem Café in Bahnhofsnähe, dort sitzt er gerne, hier kann er am meisten seine eigene Hektik abbauen, durch das Beobachten der Menschenmassen, die durch die Fußgängerzone huschen. An manchen Tagen fühlt er sich an einen Meeresstrand versetzt, die vorbei eilenden geschäftig wirkenden Menschen werden zu Wellen, die ihn sanft zur Ruhe bringen. Je streßiger der Trubel der Straße auf ihn wirkt, desto gelassener, befreiter kommt er sich vor. Jetzt allerdings will dieses Hin und Her, wollen diese Geräusche, diese Unruhe, nicht zu seiner inneren Einkehr beitragen. Im Gegenteil, er fühlt Nervosität aufsteigen, hat feuchte Hände, sein Herz schlägt im Rhythmus eines Langstreckenläufers. Während er das Faltblatt von einer Hand in die nächste schiebt oder es stillschweigend fixiert, wie es so alleine auf dem Tisch liegt, wenn er dem Drang nicht widerstehen kann, ein kleines rundes Luftpolster zu drücken, zeigt seine Gesichtsmimik Ausdrücke aus der gesamten Palette von Glück bis hin zu tiefer Trauer, ja Verzweiflung.

Am Morgen des 27sten hustet er verschnupft ins Telefon, er könne heute nicht zur Arbeit erscheinen, vermutlich Sommergrippe. Ein Tag Bettruhe wird helfen, morgen wieder im Büro. Felicitas Küngel tippte in die Spalte mit dem Namen Justin Zenger, krank. Sie hat dies bereits gestern gewußt, denn Justin Zenger kam ihr am Montag vor, als ob er das Wochenende über dem Alkohol zugesprochen hätte, blaß, fahrig und erschöpft, dachte, er ist ein Einzelgänger, macht sich nichts aus Alkohol und Geselligkeit, so kann man sich täuschen.

Die Hände in den Taschen schlenderte er seit zwei Uhr nachmittags durch den Hauser-Park, immer darauf bedacht, nicht zu nahe an die Laubengänge beim Springbrunnen vorbeizukommen, dafür lief er kreuz und quer, auch über die Blumenarrangements, sogar außerhalb des Parks an der Straße lang, den Eindruck erweckend, nichts würde ihn an dem Treiben im Park interessieren, überhaupt sein Hiersein sei rein zufälliger Natur.

Nichts tat sich, absolut nichts. Abgesehen von den täglichen Spaziergängern, Schulschwänzern, Müttern mit ihren Kleinkindern, Pärchen, die sich verstohlen auf die Wange küssten, ein paar Jugendliche, die lautstark eine große Show abzogen, damit man sie bemerkte, sonst passierte nichts. Keine Truppe von Werbefuzzis, kein Filmteam, keine Hausfrauen, Politiker, keine Weltverbesserer, nichts und niemand, das darauf hindeuten könnte, gleich geht die Party von was auch immer los.

Aus Frust, aber auch aus Müdigkeit von vielem Laufen setzte er sich so gegen zwanzig nach drei auf eine der Laubenbänke.

So in seine Gedanken vertieft, Reinfall, hätte ich mir denken können, arglistige Täuschung, Firlefanz, Betrug, Polizei mitteilen, bemerkte er nicht, daß Alexander schwer atmend vor ihm stand, erst als er angesprochen wurde, merkte er, ich bin gemeint. Der Typ redet mit mir.

„Sorry, hab mich festgequatscht mit dem Prof, U-Bahn verpaßt, scheiß heiß heute. Ich bin Alexander, Student, an der Uni, wir führen zurzeit ein Experiment durch. Wie verhalten sich Menschen, wenn eine unerwartete, nicht personalisierte Einladung ihnen vor die Füße flattert. Wir registrieren alle Bewegungsdaten natürlich anonymisiert, hören alle Gespräche mit, dabei ist für uns nur relevant, was in Bezug zu der Einladung gesprochen wird, der Rest wird gelöscht, versteht sich, in den Luftpolstern stecken ein Mikro und ein Sender, geil, nicht? Bei Ihnen war das verdammt schwer, Sie haben niemanden eingeweiht, niemanden etwas über die Champagnergespräche erzählt. Champagnergespräche war eine Idee von mir, sprudelnde Gespräche, wie ein leises Sirren unter Wasser.“

Justin wurde von Spaziergängern daran gehindert, Alexander im Springbrunnen bei den Laubengängen zu ertränken.

Doris Mock-Kamm

Kategorie: Kurzgeschichten

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